Artikel Sonic Seducer Juni 2004

DAS GROSSE ZITTERN

Ursprünglich war es nur eine Songzeile: "A million hungry angels smile and wait", doch für Reptyle wurden die Worte aus ihrem Song "Scourge" zu einem Mantra, das sich im vergangenen halben Jahr täglich wiederholte.

Lächeln und warten, das war die einzige Überlebenschance, weil sich das Erscheinen ihres Debütalbums "A High And Lonely Place" immer weiter zu verzögern schien. Jetzt ist das handfeste Goth-Rock-Album draußen und - wow, wir ziehen ehrfurchtsvoll den Cowboyhut - das Warten hat sich gelohnt. Es waren die berühmten letzten Meter, auf denen doch noch alles schief zu gehen schien. Die Aufnahmen glücklich beendet, die Masterdateien gerade noch rechtzeitig gebrannt, bevor der Studio-Rechner endgültig den Geist aufgab, die Songs gemixt, die ersten Promos waren schon mit der Post auf dem Weg zu Musikzeitschriften und DJs, da stand plötzlich die Welt für Reptyle still. "Unser Label Sonorium hat sich kurz vor dem geplanten Abgabetermin ins Presswerk entschlossen, die CD noch einmal komplett zu remastern", sagt Gitarrist Keule. Und damit begann das große Zittern, erst dauerte das Mastering ziemlich lange, dann gab es noch unerwartete Verzögerungen im Presswerk - und schließlich war ein halbes Jahr vergangen.

Doch man muss sagen: Egal, ob es nun am Mastering liegt oder nicht, "A High And Lonely Place" ist ein ausgereiftes, episches Album, eine CD mit fettem Goth-Rock-Sound, angefüllt mit eindringlichen Momentaufnahmen und treibenden Rock-Gitarren, die wohl auch denen gefallen werden, die eigentlich eher zum Metal tendieren. Sänger Zulu bricht gleich beim ersten Song mit seinem einstigen Credo ("Ich versuche, keine Geschichten zu erzählen") und reiht in "The Light (Martyr's Song Part I)" eine Reihe von Schnappschüssen so geschickt aneinander, dass sie die faszinierende Story eines Selbstmörders ergeben. Überhaupt versammelt "A High And Lonely Place" eine ganze Reihe von Songs, die so düster und bitter sind, dass sie einem den gesamten Nachmittag versauen können, zumindest, wenn man zart besaitet ist - doch man darf getrost davon ausgehen, dass ein Kracher wie "Green Land" zumindest in einschlägigen Discos zum Tanzflächenfüller wird - zumal er auch von seinem beschleunigten Rhythmus her absolut zum Untergrund-Hit taugt. Wer beim Titel "Green Land" aufhorcht, weil er denkt, dass er ihn schon kennt: Er war bereits auf der Promo-CD "Descent To Heaven" vertreten, ebenso wie "Redemption Street", das dem Album ein großes, episches Outtro liefert. Neben diesen drei Stücken wirkt der Titelsong "A High And Lonely Place" eher getragen und depressiv - und er geht ins beinahe schon katatonische Instrumental "Calix Babilon" über, bei dem die Gitarren zum ersten Mal auf dem Album in den Hintergrund treten - zugunsten eines sehr sphärisch klingenden Keyboards. Bei "Massacre Celebration", das unter anderem das Thema Krieg und seine Auswirkungen auf die Psyche des Menschen beschreibt, fällt am deutlichsten ins Auge, mit welcher Sorgfalt auch die Bilder im Booklet ausgewählt wurden. Das Schwarzweiß-Foto eines zerbombten Hauses illustriert den Song - die anderen Bilder passen perfekt zu den Textelementen oder zur Grundstimmung des jeweiligen Stückes.

Mit "A High And Lonely Place" kann die trinkfeste Bielefelder Band es locker mit der Goth-Rock-Konkurrenz von der Insel aufnehmen. Während also an der Veröffentlichungsfront langsam die Wolkendecke aufgebrochen ist, sieht es auf der Live-Seite momentan eher düster aus: "Wir versuchen gerade, eine Tour für den kommenden Herbst auf die Beine zu stellen", sagt Keule, "aber zurzeit geht es mit der ganzen Live-Szene in den kleineren Clubs ziemlich bergab - die Besitzer gehen lieber auf Nummer sicher und versuchen, sich allein durch Discobetrieb über Wasser zu halten." Dabei sind Reptyle gerade als Live-Band sehenswert - vorausgesetzt es sind vorm Konzert genügend Getränke kaltgestellt und die Nebelmaschine wurde anständig gefüttert. Für Gitarrist Slash jedenfalls sind die Live-Auftritte einer der ausschlaggebenden Gründe für seine Arbeit mit Reptyle: "Live ist alles viel authentischer und direkter", sagt er. Auch wenn die Band, der es auch wirklich auf die Reaktionen des Publikums ankommt, nicht immer die besten Erfahrungen mit dem Szenevolk gesammelt hat: "Egal, ob wir alleine spielten oder mit anderen Bands, das Gruft-Publikum rührt sich oft während der ganzen Zeit nicht - es klatscht zwar brav, aber große Stimmung kommt dabei nicht oft auf." Rock- und Metal-Fans sind da oft spontaner - was schließlich auch der Band mehr gibt. Könnte also sein, dass Reptyle demnächst einmal in anderen Szenen fremdgehen.

Georg Howahl